Revisionismus

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Ein Revisionsverbot ist die ärgste Reaktion. Es gehört nämlich zum Ethos jedes empirischen Wissenschafters, an der Falsifizierung der von ihm selbst aufgestellten Theorie zu arbeiten, meint als Erkenntnistheoretiker völlig zurecht niemand geringerer als der berühmte Sir Karl Raimund Popper (1934). Dies bedeutet, dass jede Wissenschaft, die auf Beobachtungen beruht, ganz selbstverständlich eine Revision der bisherigen Ansichten betreiben muß. Wären die Dinge wirklich so, wie sie uns an der Oberfläche erscheinen oder erzählt werden, wäre noch niemand auf die Idee des Nachforschens gekommen. Kein wissenschaftlicher Fortschritt käme je zustande, wollte man gängige Ansichten nie zu revidieren suchen.

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DAS NATURWISSENSCHAFTLICHE BEISPIEL

Die moderne Naturwissenschaft ist diesen Weg gegangen. Von Descartes und Newton an bis etwa um 1900 stellte man sich die Natur stabil, deterministisch und mechanistisch vor. Seit Einsteins Relativitätstheorien, Heisenbergs Unschärferelation, Gödels Unvollständigkeitstheorem, seit Quantenphysik, Chaostheorie, Systemtheorie und Synergetik kam die heutige Wissenschaft mit exakten Methoden dahinter, dass das Universum nicht wie ein überdimensionales Uhrwerk funktioniert (Capra 1986), sondern als nichtlinear, selbstorganisiert, flexibel, indeterministisch und lebendig vorzustellen ist (Jantsch 1979). In den Sozialwissenschaften beginnt diese Einsicht erst allmählich an Boden, und manche Soziologen versuchen immer noch, mit den alten „sozialen Mechanismen“ das Auslangen zu finden. Die Beharrungstendenz eingefahrener Wissenschaftskollektive bedingt lange Sickerzeiten (Kuhn 1978).

Selbstreferenz

Vollends in die Irre läuft, wer ausschließlich oder vorrangig Informationen sucht, die eine Hypothese, Lehre oder Absicht bestätigen - er landet im „confirmation bias“, dem systematischen Fehler der Übereinstimmungssuche (Watson 1960). Werden in weiterer Folge widersprechende Befunde missachtet, so landet man in einer „illusionären Korrelation“, d.h. man stellt Zusammenhänge her, die den wirklichen Tatsachen widersprechen (Chapman & Chapman 1967). Vernachlässigt man dazu noch Häufigkeitsinformationen, gelangt man zu nicht-repräsentativen Ergebnissen (Kahneman & Tversky 1972): Spektakuläre Einzelfälle werden hochgespielt, und statistische ,,Ausreißer“ beherrschen die aufgeregte Diskussion. Die Regeln werden dann nicht mehr vom Allgemeinen, sondern von den Ausnahmen abgeleitet. Da selbst für ein korrekt wissenschaftliches Vorgehen nicht alle Informationen immer gleich oder leicht zugänglich sind, kommt es zu einer Überbewertung der leicht verfügbaren Informationen und gleichzeitig zu einer Vernachlässigung der schwerer zugänglichen (Tversky & Kahneman 1974).

Passt man nach all dem noch einem Anfangswert seine Folgeurteile an, schlagen ständig „Verankerungs- und Anpassungseffekte“ durch (Kahneman & Tversky 1973). Wird der Anfangswert vollends in einem ideologischen, utopischen oder dogmatischen Vorurteil verankert, so bringt jede Folgeuntersuchung immer nur die apologetische Bestätigung der ursprünglichen „fixen Idee“. Dank „confirmation bias“ und „illusionärer Korrelation“ lassen sich für alles und jedes Scheinreferenzen finden, der wissenschaftliche Beleg liegt dann in der Selbstreferenz. Zwingt einen aber doch einmal die offensichtliche Unhaltbarkeit der anfänglichen Annahme zu einer Revision, werden gerne die ursprünglichen Aussagen durch den „Hindsight“-Effekt sophistisch umbewertet (Fischhoff 1977): Man hat es „immer schon“ gewusst, nicht „so“ gemeint und „eigentlich anders“ gesagt.

Revision gegen Verewigung

Selten sind für Ereignisse wirklich alle Parameter (Einflussgrößen) bekannt, geschweige denn je voll zu erfassen oder zu ,,kontrollieren“ (Gleick 1988). Schon die Ausfindigmachung neuer Einflüsse auf empirische Ereignisse zwingt zum Revisionismus. Empirische Theorien gelten folglich immer nur provisorisch, nämlich bis zu ihrer Falsifizierung oder auch nur Änderung. Wissenschaftlich völlig unzulässig ist aber die ideologische Generalisierung und Perpetuierung (Verewigung) empirischer Theorien (Caspart 1991, S 89 ff). Sieht man sich nicht nur populärwissenschaftliche, geisteswissenschaftliche und volkspädagogische Arbeiten an (Caspart 2002), sondern sogar auch viele naturwissenschaftliche, erscheint unsere „Wissensgesellschaft“ in einem ganz merkwürdigen Licht. Revisionismus tut immer not.

Literaturnachweis

  • Fritjof CAPRA: Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild. Aus dem Amerikanischen von Erwin SCHUHMACHER. Überarbeitete und erweiterte Neuauflage. Scherz Verlag, Bern 1986.
  • Wolfgang CASPART (1991): Idealistische Sozialphilosophie. Ihre Ansätze, Kritiken und Folgerungen. München, Universitas Verlag.
  • Wolfgang CASPART (2002): Volkspädagogische Zeitgeschichte und Geschichtswissenschaft – Eine kurze wissenschaftstheoretische Betrachtung. In: Genius 2/2002, Genius Gesellschaft, Wien, S 108-109.
  • Lauren .J. Chapman & J.P. Chapman (1967): Genesis of popular but erroneous psychodiagnostic observations. Journal of Abnormal Psychology, 71, S 193-204.
  • Baruch Fischhoff (1977): Hindsight is not foresight: the effect of outcome knowlege on judgment under uncertainty. Journal of Experimental Psychology, 3, S 552-564.
  • James Gleick (1988): Chaos - die Ordnung des Universums. Vorstoß in Grenzbereiche der modernen Physik. Aus dem Amerikanischen von P. Prange. München, Verlag Droemer Knaur.
  • Erich JANTSCH: Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist. Carl Hanser Verlag, München 1979.
  • Daniel Kahneman & Amos Tversky (1972),: Subjective probability: A judgment of representiveness. Cognitive Psychology, 3, S 430-454.
  • Daniel Kahneman & Amos Tversky (1973): On the psychology of prediction. Psychological Review‘ 80, S 237-251.
  • Daniel Kahneman, Paul Slovic & Amos Tversky (1982): Judgment under uncertainty: Heuristics and biases. Cambridge, Cambridge University Press.
  • Thomas S(amuel) KUHN: Die Struktur der wissenschaftlichen Revolutionen. 3., mit der 2. idente, revidierte und um das Postskriptum von 1969 erweitere Auflage. Aus dem Amerikanischen von Hermann VETTER. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1978.
  • Karl R. Popper (1935): Logik der Forschung. Ursprünglich 1934. Herausgegeben von Herbert Keuth. Akademie-Verlag, Berlin 1998.
  • Amos Tversky & Daniel Kahneman (1974 : Availibility: a heuristic for judging frequency and probability. Cognitive Psychology, 5, S. 207-232.
  • P.C. Wason (1960): On the failure to eliminate hypotheses in a conceptual task. Quarterly Journal of Experimental Psychology, 12, S 129-140.
  • (Als „Revisionismus tut immer not!“ in: Soziologie heute, 12, Linz 2010, S. 19-20)

Kommentare

wie so viele hat auch der Autor die Vorstellung, die Menschen mit "notorischem confirmation-bias" könnten das erkennen und abstellen, sie hätten eine Wahl und einen freien Willen.

Dieser weit verbreitete Irrglaube ist fatal, denn er unterstellt mit Wissen und Logik sei dem Problem beizukommen, eine Aufklärung der "im confirmation bias" Gefangenen würde diese befreien und die Situation friedlich lösen.

Doch dem ist nicht so, man kann diese Menschen nicht mit Vernunft und Logik erreichen, wenn es um deren Worte und Taten geht. Vernunft und Logik akzeptieren und applizieren sie nur, wenn es darum geht, "Feinde" zu bekämpfen und "Geliebte" zur "freiwilligen" Abgabe ihrer Lebenszeit zu bringen. "Vernunft und Logik" sind für sie nichts mehr als Worte zur Manipulation, eine objektive Realität gibt es für sie nicht!

Es bringt auch nichts, eine vernünftige Vorstellung zu verteidigen. Natürlich ist Revisionismus wichtig! Aber nur für "echte Menschen", nicht für notorische Lügner, die, gefangen in ihrer Situation, nur nach Aufmerksamkeit und Manipulations-Macht streben.

Antwort auf von PassThor David

Gestern ist mir beim Twittern aufgefallen, wie unterschiedlich  der Begriff "Revisionismus" missbraucht wird. Es ist zu einem Schlagwort im besten Sinne des Wortes verkommen.

Dr. Wolfgang Caspart entblößt durch seine Ausführungen die notorischen Lügner. Die eigentlich Wortbedeutung zu kennen, hilft, die Lügner als solche zu erkennen. Der nächste Schritt ist dann die Lektüre des Buches "Die Zeit des Anderen".