DIE DEMOKRATISCHE ALTERNATIVE

Siehe auch
8. Juli 2021 | Rudolf Hänsel: Das Kind im Bürger - Erwachsene Menschen unterwerfen sich Berufspolitikern, als wären diese ihre Eltern ― mit fatalen Folgen


Was tun, wenn unsere heutige Demokratie versagt? Muss unbedingt der „starke Mann“ her? Versagt denn wirklich die „Demokratie“, also wörtlich die „Volksherrschaft“ bzw. die „Selbstherrschaft der Beherrschten“? Oder sind die wahren Schuldigen unser Parteiensystem, das Funktionärsunwesen, die neofeudale Oligarchie, das allumfassende Klientensystem, die demagogischen Wahlkämpfe und die gleißnerische Propaganda?

Wer heute von „Demokratie“ spricht, meint im Guten wie im Schlechten unser Parteiensystem, die Repräsentativverfassung, das Funktionärswesen, die Interessensvertretungen, den Parlamentarismus, die Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsindustrie, Wahlkämpfe, Propaganda oder Demoskopie.

Allenfalls wissen die Zeitgenossen noch, dass es im alten Athen die erste auch so genannte Demokratie gab und unter dem Aristokraten (!) Perikles zu ihrer Blüte kam. Schließlich geht ja der politische Begriff „Demokratie“ genauso wie „Monarchie“ (Herrschaft eines Einzelnen), „Aristokratie“ (Herrschaft der Besten), „Oligarchie“ (Herrschaft von Wenigen), „Plutokratie“ (Geldherrschaft) oder „Ochlokratie“ (Pöbelherrschaft) auf die alten Griechen zurück. Doch zwischen der athenischen Demokratie und unserer gegenwärtigen, ebenso genannten Staatsform liegen Welten!

WIE FUNKTIONIERTE DIE ATHENISCHE DEMOKRATIE?

Wie die zeitgenössischen Demokratien funktionieren, wissen wir. Im antiken Athen gab es dagegen noch kein Parlament und wurde in einem Stadtstaat auch nicht benötigt. Nur wenige militärische Ränge wurden überhaupt gewählt (die zehn Strategen), mussten aber (nicht zuletzt über ihre persönlichen finanziellen Verhältnisse) Rechenschaft ablegen und waren jederzeit absetzbar.

Alle übrigen Funktionäre (wie die Beamten und Geschworenen) wurden - durch Los bestimmt! Der eigentliche Entscheidungsträger aber war und blieb auch tatsächlich die Volksversammlung, von der nicht nur sämtliche Gesetze beschlossen, sondern alle politischen Entscheidungen gefällt wurden. Selbstverständlich entschied sie alleine, ob Krieg erklärt oder Frieden geschlossen wurde. Um beschlussfähig zu sein, mußte die Volksversammlung von mindestens 6.000 Bürgern besucht werden (Kagan 1992).

Wohl weniger gefällt uns heute, dass es keine Berufsrichter gab, die Geschworenengerichte äußerst kopfstark waren, und jedermann seine Sache selbst vor Gericht vertrat. Staatsanwälte existierten genausowenig, vielmehr konnte jeder Bürger Anklage führen. Um niemanden übermächtig werden zu lassen, vermochte jährlich jeder, gegen den sich 6.000 Bürger anonym aussprachen, auf einige Jahre verbannt werden (Ostrakismos). Freilich verlor er weder sein Vermögen noch sein Ansehen oder seine sonstigen Rechte.

Eine Gewaltenteilung war nicht vorgesehen, Legislative und Jurisdiktion lagen ungeteilt und unmittelbar in der Hand des Volkes selbst. Gewählte wie ausgeloste Amtsträger fungierten nur ein Jahr lang - direkte Demokratie in Reinkultur!

WAS UNS DIE ANTIKE DEMOKRATIE LEHREN KANN

Von den antiken Autoren wurde die Demokratie eher negativ beurteilt - eine Einschätzung, die sich erst in jüngerer Vergangenheit änderte. Aus ihrer Sicht wäre die moderne „Demokratie“ allerdings eine Mischform aus „Oligarchie“ und „Ochlokratie“. Wir können uns heute nur über soviel echte Volksherrschaft bei den alten Athenern wundern.

Was hervorragende Männer wie Perikles zu herausragenden Taten in ihrer demokratischen Heimat veranlaßte, war ihre Sorge um den Nachruhm, aber nicht die Fortsetzung des Privatgeschäftes mit politischen Mitteln. Glückliches Athen! Und schon gar nicht lag ihnen daran, ihre persönlichen Traumata und Komplexe kollektiv in fanatischen Ideologien oder Utopien zu kompensieren.

Zur Demokratie gehör(t)en auf alle Fälle auch wirkliche Demokraten, also mündige, einsatzfreudige, verantwortungsbereite und unabhängige Bürger. Was würden Platon und Aristoteles wohl von unserer modernen „demokratischen Reife“ halten, die um den Preis der „sozialen Sicherheit“ die politische Freiheit verkauft?

Jedermann galt in Athen als gleich würdig, reif, mündig und geeignet, ein öffentliches Amt zu übernehmen. Deshalb konnten ja die Ämter auch ausgelost werden! Die Unterscheidung zwischen dem aktiven Wahlrecht für die „Untertanen“ und dem passiven für die „politische Klasse“ zur Legitimierung der Berufsdemokraten und Repräsentanten hätte bei den stolzen freien Griechen keine Chance gehabt.

AUSLOSEN STATT WAHLABSTIMMUNG

Nun leben wir heute in Flächenstaaten und brauchen Repräsentanten. Unsere Gesellschaften sind obendrein zu kompliziert und arbeitsteilig geworden, als dass sich Politik nebenbei oder als Freizeitjob gestalten ließe. So sehr wir die Gewaltenteilung erhalten wollen und auf den Ostrakismos verzichten können (der immerhin auch nicht schlechter als die mittlerweile gängigen medialen Hinrichtungen war), so sehr stellt das Auslosen der Parlamentarier die echte Alternative dar, solange man den demokratischen Rahmen nicht sprengen will.

Das Los ist der einzige demokratische Ausweg aus dem Mangel an innerparteilicher Demokratie, dem Funktionärsunwesen und Bonzentum, der disziplinierenden Hochzucht von Parteisoldaten durch allmächtige Parteisekretariate, der polypenhaften Durchdringung der Gesellschaft durch die Parteien, der Bildung von politischen Seilschaften, dem neofeudalen Klientenwesen oder der parteipolitischen Besetzung aller Handlungsalternativen bis hin zur faktischen Unbeweglichkeit.

Der „volkspädagogischen“  Bevormundung der steuerpflichtigen Souveräne durch selbsternannte Volksbeglücker und der Angst der „Demokratoren“  vor der direkten Demokratie wären genauso der Boden entzogen wie der von oben initiierten und von unten nolens volens angenommenen Korruption.

Vor allem wird der Wille des Volkes nach statistischen Gesetzen (!) in einem erlosten Parlament wirklich repräsentiert und nicht durch parteiinterne Auswahlverfahren der „Repräsentanten“ manipuliert. Die Probleme der „Quotenfrauen“, „Quereinsteiger“ und ähnliches lösten sich von selbst.

Die Parteien blieben durchaus erhalten, wären aber auf eine erträgliche Größe reduziert und zur bloßen Lobby geworden. Die Interessensvertretungen müßten sich via „public relations“ und legalen Lobbyismus um die Plazierung ihrer berechtigten Anliegen kümmern. Die Gerichte blieben tatsächlich unabhängig, und die Geschworenen würden nicht nach parteipolitischer Zugehörigkeit vorselektiert werden.

Die Werbewirtschaft könnte sich auf ihre ökonomischen Kunden konzentrieren und hätte an den ohnehin nicht sonderlich geliebten Parteien nicht viel verloren. Für die Meinungsindustrie bliebe die politische Berichterstattung unverändert unterhaltsam.

RAHMENBEDINGUNGEN

Würde man beispielsweise ein Drittel aller, auf 6 Jahre ausgelosten Abgeordneten alle zwei Jahre erneuern, wäre durch eine parlamentsinterne Rotation für eine interne Einschulung oder ein laufendes „training on the job“ gesorgt. Ausscheidende Parlamentarier ließen sich in Nachbesetzung freiwerdender Beamtenpositionen berufsadquat unterbringen und „versorgen“, ohne den Staatssäckel durch Abgeordnetenpensionen zusätzlich zu belasten.

Eine regionale Repräsentation ist durch entsprechende „Konskriptions“-, Los- oder Wahlbezirke leicht zu bewerkstelligen. So erkorene Abgeordnete wären tatsächlich unabhängig, müssten um keine Wiederwahl bangen und könnten nach Wunsch auf die Angebote der zu Vereinen gewordenen Parteien und diverser Lobbies zurückgreifen. Die Gelder für die direkte wie indirekte Parteienfinanzierung und für die „Wahlkampfkostenersätze“ ließen sich budgetär sinnvoller einsetzen - oder überhaupt einsparen.

Schlägt jemand (aus welchen Gründen auch immer) das auf ihn fallende Los aus, könnte er eine Ersatzperson benennen. Wo sich die Menschen hingegen noch wirklich kennen, etwa in Kleingemeinden, könnten (müssten aber keineswegs) die Gemeindevertreter durchaus noch gewählt werden.

Republikanische Präsidenten werden jetzt schon vielfach durch ein Parlament gewählt, nur dass es dann durch Los rekrutiert und wirklich repräsentativ wäre. Das Staatsoberhaupt könnte die Regierung berufen und entlassen, wenn man die Wahl des Regierungschefs nicht gleich dem erlosten Parlament überträgt.

Wie in allen Demokratien blieben die Regierungsmitglieder dem nun wahrhaft repräsentativen Parlament  verantwortlich. Will man jedoch einzelne Fachleute oder kraft ihrer Stellung einflussreiche Persönlichkeiten auf Dauer in der Politik halten (was rein demokratisch keineswegs zwingend ist), so steht ihrer Berufung in einen „Senat“ als weiterer Kammer nichts im Wege.

Auch diese Senatoren wären unabhängig und offen deklariert, ihre Kompetenzen könnten von beratend bis mitbestimmend reichen. Die Berufung in einen solchen Senat ließe sich zudem unschwer demokratiekonform gestalten (z.B. durch ein qualifiziertes Votum der ausgelosten Abgeordneten oder durch einen Staatspräsidenten im Konsens mit den ausgelosten Abgeordneten).

SCHAU NACH BEI SCHILLER

Ein „Parlamentsabsolutismus“ würde durch ein solches Zweikammersystem (nicht zuletzt in Kombination mit einem, nicht nur auf das bloße Repräsentieren beschränkten Staatsoberhaupt) verhindert werden. Vor allem spräche nichts gegen eine Verstärkung des direkt demokratischen Elementes. Das Beispiel der Schweiz demonstriert schlagend, dass das „Volk“ oder der „Demos“ nicht so dumm ist, wie es eine selbsternannte „Elite“ am „Pöbel“ oder „Ochlos“ gerne hätte.

Nach der Antike war in vielen Rest- und Rumpfdemokratien diese Loswahl auch üblich geblieben (z.B. in manchen deutschen Reichsstädten). Noch in Schillers „Wallenstein“  entsenden die meuternden Pappenheimer eine ausgeloste Verhandlungsdelegation zu ihrem Feldherren (Gefreiter in „Wallenstein“ , Zweiter Teil „Wallensteins Tod“ , Dritter Aufzug, Fünfzehnter Auftritt: „Jedwede Fahn' zog ihren Mann durchs Los“).

Mit der Einführung einer Abstimmungswahl von Demagogen und Wahlparteien hat sich die Demokratie leider ein Eigentor geschossen: An der Stelle des alten Feudalismus und Absolutismus hat sich nur ein anderer entwickelt. Nicht einmal die Parlamentarier sind heute wirklich frei. Was die Demokratie aber eigentlich will, ist die Freiheit. Diese politische Freiheit gilt es, in unserer vernetzten und komplexen Welt zu retten, und wenn es sein muss, dann durch eine neues Auswahlverfahren für unsere Abgeordneten.

LITERATURNACHWEIS

  • Donald KAGAN: Perikles. Die Geburt der Demokratie. Aus dem Amerikanischen von Ulrich ENDERWITZ. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1992.
  • Friedrich von SCHILLER: Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. Schillers sämtliche Werke in 12 Bänden, 4. Band. J.G. Cotta'scher Verlag, Stuttgart 1860.                         
  • (Aula 10/94)

Kommentare

Wie wohl viele, ärgert mich seit langem, daß wir als einst vernünftiges Volk einen solchen Mangel an  Persönlichkeiten in der Politik haben. Ich führe das auf die falschen Auswahlbedingungen zurück. Ein redlich denkender Mensch, den die Mehrheit in einem Wahlkreis zu ihrem Vertreter wählen könnte, hat in einer Partei, die nur mit Ideologien, nie mit Persönlichkeiten reüssieren kann, kein Betätigungsfeld und keine Aufstiegschance.
 
Die Unvernunft, die uns auf allen Gebieten umgibt, entsteht aus der durch keinen Wirklichkeitssinn mehr gebremsten Vielfalt der Ideologien, die von Leuten stammen, die sich einbilden, Abgeordnete des Volkes zu sein. Wenn nicht Volkslegitimierte an die Macht kommen, richten sie unvermeidlich Chaos, Unheil, Schaden, Schwachsinn an, weil sie sich an der filternden Urteilskraft der Wahlkreismehrheit, die Pfeifen, Spinner und Verderbte treffsicher ausscheidet, mit Verhältniswahl straflos vorbeimogeln konnten.
 
Diese (im Bundestag z.Z. 410!) Listenprodukte sind bloße Parlamentsbesetzer und führen mit dem von ihnen angerichteten Unrecht und Schaden den BRD-Untergang herbei. Das liegt an ihrer fehlenden Volkslegitimation, da sie nicht unmittelbar als Personen vom Volk gewählt sind, also kein Direktmandat von ihm haben. Alles Melden und Beklagen der BRD-Mißstände ist ohne Änderung des Wahlsystems und Wahlverhaltens vergebens. Die herrschenden Figuren verschwänden nur bei der einzig verfassungsmäßigen Mehrheitswahl wieder in der Versenkung.
 
Manch Deutscher glaubt, wenn die Herrscher Demokratie sagen, sei alles i.O. und das Wohl des Volkes gesichert, er könne in Ruhe seiner privaten Tätigkeit nachgehen und alles bleibe und werde gut. Es ist irrig, wegen des Unrechts, des Zusammenbruchs der Ordnung und staatlichen Funktionsfähigkeit, der Gesinnungsdiktatur, der widerwärtigen Schund-, Propaganda- und Lügensendungen in den Medien und der allgegenwärtigen Verbrechen in der BRD die Regierung zu beschuldigen, sie kann sich auf die gleich-bleibend 70% = 40 Mio. Schwarz-, Rot-, Grün-, Gelb-Wähler berufen, bei der letzten EU-Wahl waren es sogar 76%!, die der herrschenden Parteibonzen- und -bonzinnen-Kaste den Auftrag zu ihrem Zerstörungswerk alle paar Jahre wieder erteilen.
 
Ohne Umwandlung der verfassungswidrigen Verhältnis-/Parteienwahl, mit der die unmittelbare Wahl eines Abgeordneten und somit die Vertretung des Volkswillens im Parlament unmöglich sind, in die einzig verfassungsmäßige Mehrheits-/Personenwahl ereilt die BRD immer schneller der unaufhaltsame Abstieg zum Arabo-Afri- und sonstigen Drittwelt-Slum mit Clanherrschaft oder gar der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui.
 
Diesem Schicksal treibt die BRD z.Z. unter lustvoller Mithilfe und verblendetem Jubel dieser 40 Mio. Chaoswähler kopflos entgegen. In den Großstädten dürfte der Punkt letztmöglicher Umkehr von der Gewalt- und Willkür-“Herrschaft des Unrechts“ (Seehofer) zum Rechtsstaat schon überschritten sein. Wer wie diese 70% der Deutschen sein Schicksal nicht mit Demokratie einschließlich Volksabstimmung in die eigenen Hände nimmt, geht in fremden Händen unter.
 
Eine Kurzbetrachtung der Legitimationsgrundlage von Listenleuten legt klar zutage: mit Zweitstimmen werden nur Parteiprogramme gewählt und vom Bürger legitimiert. Bei Parteifunktionären, die so über Liste Bundestag und Landtage besetzen, besteht Volkslegitimation also nur in dem

stecknadelkopfgroßen Kubikmillimeter (mm³) Hirnmasse,

der das jeweils gewählte Parteiprogramm speichert. Alles andere an ihnen ist volksfremde verfassungswidrige Willkür. Sie sind für ihre Parteien frei verfügbares ungebundenes Schadenspotential, das sie zu jedem merkwürdigen Vorhaben und Hirngespinst einsetzen, das ihnen in den Sinn kommt oder zu dem sie finanziell beeinflußt werden.